, Ramona Schmidli

Was der rosa Flussdelfin mit der Dreimonatsspritze zu tun hat. Von Schamanen und Pharmazie am Amazonas

Eine Zweitagesreise von der Stadt Iquitos entfernt und nur auf dem Flussweg erreichbar, befindet sich «Tucunaré». Eine Praxis mit traditionellem Palmendach am Río Chambira, welche vom deutschen Verein «FKI» (Förderkreis in Kooperation mit indigenen im Amazonien) in Zusammenarbeit mit den lokalen Gesundheitsbehörden betrieben wird und der lokalen indigenen Bevölkerung, den Urarinas, primäre Gesundheitsversorgung anbietet. Gemeinsam mit meinem Partner Nicolaj als Pflegefachmann lebte und arbeitete ich von März bis November 2021 als Apothekerin an diesem Ort. Das Praxisteam bestand aus vier peruanischen Fachkräften: einem Assistenzarzt, einem Laboranten, einer Pflegefachfrau und einer Hebamme. Zusätzlich beschäftigte der FKI eine Anthropologin, welche sich seit Jahren im Flussbecken aufhält und für das kulturelle Verständnis sehr wichtig war. Nicolaj und ich leiteten die Praxis, wir waren aktiv in der Behandlung tätig und wurden als Allrounder eingesetzt. Weiter unterstütz wurden wir von lokalen Übersetzer:innen und Bootsfahrern. Da viele Dörfer mehrere Tagesreisen entfern liegen, organisierten wir Brigaden, auf welchen wir die Dörfer aufsuchten und Behandlungen anboten.

Nachtlager. Auf einer Brigade schliefen wir im Zelt oder unter dem Mückennetz auf einer traditionellen Ela, aus Chambirafaser gewobene Matte.

Die Urarinas – ein traditionelles Volk

Die Urarinas sind ein Volk, welches sehr traditionell lebt. Sie bauen Maniok und Kochbananen an, sammeln Früchte, jagen und fischen. Durch die kommerzielle Nutzung des Waldes durch Holzschlag und Ölförderung ist der Jagd- und Fischerfolg stark rückläufig und viele Kinder leiden dadurch unter Proteinmangel und Unterernährung. Besonders gefährdet sind Kleinkinder, welche durch die Geburt des Geschwisters von der Brust verdrängt werden und gezwungen sind, auf eine kohlenhydratreiche Nahrung umzusteigen. Ein Umstand, welcher erheblich zur hohen Kindersterblichkeit vor Ort beiträgt. Durch die Mangelernährung kommt es zur Schwächung der inneren Organe und zu einer Supprimierung des Immunsystems, weshalb die Kinder oft und schwerwiegend an verschiedenen Infektionskrankheiten leiden. Schlimme Unterernährung führt zu Marasmus und Kwashiorkor und kann direkt oder im Zusammenwirken mit Infektionen zum Tod führen.

Masato. Gekochter Maniok wird mit gekauter Süsskartoffel versetzt. Der Speichel startet den Fermentationsprozess. Je länger die Ruhezeit desto höher der Alkoholgehalt im fermentierten Getränk, welches tief in der amazonischer Tradition verankert ist.
Mädchen im Einbaum-Kanu. Schon die Kleinsten wissen sich auf dem Wasser fortzubewegen.

Kräuter und Heilpflanzen als Medizin – und Rat vom Schamanen

Durch das starke Traditionsbewusstsein der Urarinas stehen hauptsächlich traditionelle Heilmethoden im Vordergrund. Eingesetzt werden dabei verschiedene Kräuter und Heilpflanzen, Gesänge (Ikaros) und Zeremonien mit psychoaktiven Pflanzenmitteln, wie Ayahuasca und die Engelstrompete. In der Vorstellung der Urarinas von Ursprung der Krankheit und Weg der Genesung, spielen verschiedene Geister, die Mutter des Waldes, der rosa Flussdelfin, Flüche und Schadenszauber eine zentrale Rolle. Da die westliche Medizin Krankheiten auf einer anderen Ebene behandelt, wird die Praxis oft nicht als erste Anlaufstelle aufgesucht. Für die Urarinas ist es jeweils bereits entschieden, ob eine Krankheit tödlich verlaufen wird, weshalb sie in kritischen Momenten ganz ruhig und voller Urvertrauen wirken. Dies zeigte sich sehr eindrücklich bei der Behandlung eines Mannes nach einem toxischen Schlangenbiss. Während wir die Behandlung einleiteten, blieb seine Frau trotz der lebensgefährlichen Situation ganz ruhig. Der Tod bedeutet in ihrer Kultur nichts Schlimmes. Er wird als zum Leben zugehörig akzeptiert.

Das transkulturelle Arbeiten erfordert viel Feingefühl und Toleranz. Zuerst braucht es viel Zeit und Geduld, um einander kennenzulernen und zu verstehen. In den Beratungen und Behandlungen sind Empathie und Ruhe zentral. Die Urarinas sind sehr zurückhaltend, weshalb es wichtig ist, ihnen viel Raum zu geben, um sich mitteilen zu können.

Kind mit seiner Hängematte. Der Hängematte kommt eine wichtige Schutzfunktion zu.

Dreimonatsspritze als Schutz vor bösen Wesen

In der Kosmovision der Urarinas zieht Blut böse Wesen an, welche Krankheit bringen. Da diese sich besonders gerne am Fluss und im Wald aufhalten, sind Frauen dazu gezwungen, während der Menstruation auf das Baden und Waschen sowie auf die Holzsuche zu verzichten, um sich und andere vor Krankheit zu schützen. Hält man sich nicht daran, kann man vom rosa Flussdelfin schwanger werden, was zur Geburt eines Kindes mit Anomalien führt, oder man ärgert die Mutter des Waldes, was dazu führen kann, dass der Säugling an Durchfall erkrankt. Die Menstruation soll die Frau den ganzen Tag sitzend verbringen, weshalb sie in dieser Zeit den wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben nicht nachgehen kann. Diese lunaren Restriktionen führen zu starken sozialen Einschränkungen und schlussendlich dazu, dass die Dreimonatsspritze mit 150 mg Medroxyprogesteronacetat zur Verhütung grosse Beliebtheit geniesst. Da das reine Gestagenpräparat bei den meisten Frauen das Ausbleiben der monatlichen Blutung bewirkt, nützt sie ihnen für eine ganzheitliche Prävention: Zur Verhütung, besonders wichtig nach einer Geburt; wie auch zum Schutz vor Erkrankung durch böse Wesen.

Das Leben spielt sich am Fluss ab.

Ritual gegen Malaria

Auf einer aktiven Malariasuche diagnostizierten wir bei der 10-jährigen Mónica (Name geändert) Malaria tertiana, eine Infektion, die durch Plasmodium vivax verursacht wird. Wir therapierten sie mit Chloroquin und Primaquin. Nach sieben Tagen suchte sie die Praxis als Notfall auf. Sie war so schwach, dass sie nicht mehr gehen konnte und wirkte apathisch. Sie hatte einen Hämoglobinwert von 8.8g/dl und eine Sauerstoffsättigung von 78%, zeigte jedoch weder Dyspnoe noch Tachypnoe. Ihre Wangen waren rot angemalt. Die rote Farbe der Achiotesamen wird in Heilritualen genutzt. Ihre Mutter erzählte mir, dass die Medikamente nicht geholfen hätten und es ihr täglich schlechter ging. Auch das Ritual beim Schamanen führte zu keiner Besserung. Ihre Symptome liessen den Verdacht entstehen, dass sie von einem vererbten Enzymdefekt betroffen ist. Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel ist in Malariaendemiegebieten häufiger, da es vor einer schweren Erkrankung schützt. Die Behandlung mit Primaquin löst oxidativen Stress aus und kann bei einem GDP6-Mangel zur Schädigung der Erythrozytenmembran führen und zur Hämolyse. Aufgrund fehlender Möglichkeiten der Diagnostik im ressourcenarmen Setting konnte der Verdacht nicht bestätigt werden.

Achiote, Bixa orellana, wird für zeremonielle Zwecke eingesetzt.

Erfahrung fürs Leben

Trotz hohem Bedarf vor Ort, fehlt es an Instrumenten, Fachpersonal und Diagnostik. Häufigste Behandlungsursachen sind Malaria, Durchfall- und Hauterkrankungen (bakteriell, viral, parasitär und durch Pilze verursacht), Pneumonien, Unfälle (Verbrennungen, Schnitt- und Schusswunden) und Schlangenbisse. Immer wieder kommt es zu Medikamentenengpässen. Hinzu kam, dass der globale Fokus auf COVID-19 die individuellen lokalen Bedürfnisse am Flussbecken zusätzlich verdrängte.

Das Leben am Chambira war fachlich sowie lebenstechnisch herausfordernd. Als Trinkwasser diente bestenfalls Regenwasser, die einseitige Ernährung, die für uns ungewohnten Erreger. Und dennoch war vieles so natürlich, so sinnvoll, so lehrreich und berührend. Das morgendliche Waschen mit den anderen Frauen am Fluss, fischen auf dem Einbaum-Kanu, sich freundschaftlich den Kopf nach Läusen absuchen, mit den Kindern Kakao im Wald sammeln, das abendliche Ritual sich am Fluss mit Eimern zu duschen und dabei den Sternenhimmel zu bestaunen und den ganzen Kosmos der Urarinas einzuatmen. Es sind die offenen und aufrichtigen Begegnungen, der Austausch auf Augenhöhe und die menschlichen Verbindungen. Eine Erfahrung die mich nicht nur fachlich viel gelehrt, sondern mich fürs Leben geprägt hat.

Über die Autorin

Ich bin eidgenössisch diplomierte Apothekerin und verbrachte 9 Monate am Flussbecken des Río Chambiras, in der Region Loreto, Peru. Ich hatte schon immer eine Faszination für indigene Kulturen Südamerikas, ihre Heilpflanzen und Rituale, weshalb ich mich für das Studium in Pharmazie entschied. 2015 durfte ich im Rahmen meiner Masterarbeit die traditionelle Anwendung von Papayasamen gegen Darmparasiten in der Kultur der Mbya Guarani, in Argentinien untersuchen und so meine ersten Erfahrungen auf dem Feld sammeln. Nach einigen Jahren in einer öffentlichen Apotheke hat es mich zurück nach Südamerika gezogen. Es war eine sehr intensive Zeit mit vielen aufschlussreichen Erfahrungen und beständigen Verbindungen. Dieser Artikel wurde zuerst publiziert im pharmaJournal 02/2022.

Spenden

Der FKI ist ein gemeinnütziger Verein, der die Praxis am Rio Chambira vor mehr als 20 Jahren aufgebaut hat und bis heute betreibt. Zusätzlich führt der FKI auch andere Entwicklungsprojekte in Kooperation mit den Urarinas durch. In diesen geht es unter anderem um Ausbildung von Fachpersonal vor Ort sowie Ernährung und Landwirtschaft. Er ist für die Finanzierung seiner Projekte auf Spenden angewiesen. Über Ihre finanzielle Unterstützung zu Gunsten der Urarinas würden wir uns sehr freuen.

Spenden per Banküberweisung:
Förderkreis in Kooperation mit indigenen in Amazonien e. V

Commerzbank Leverkusen

Bankleitzahl: 375 400 50
Kontonummer: 4 461 000
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